Heute haben wir wieder ein volles Programm. Eigentlich zu viel für einen Tag in Nepal. Aber es ist unser letzter Tag. Es gibt kein Morgen, auf das wir unsere To-Dos schieben könnten und das ist allen klar. Dementsprechend früh erscheinen Oliver und ich in der Küche zum Frühstück. Prakriti sitzt bereits am Küchentisch und macht einen Plan. Auf einer Spielkarte listet sie die Stationen auf, die wir heute zu absolvieren haben. Eine schriftliche Tagesplanung. In einem Land in dem Planung ein Fremdwort ist, aber doch immer alles irgendwie passiert. Das habe ich hier noch nie erlebt. Es ist ernst!
Wir beginnen mit einem Besuch auf dem Farmersmarket. Mittlerweile sind wir ein eingespieltes Team. Prakriti und Gokul auf dem roten Motorrad und Oliver und ich auf dem grünen Scooter düsen wir durch das vorwinterliche Kathmandu nach Thamel. Unterwegs noch ein kurzer Stop an der Tankstelle und weiter.
Der Farmersmarket ist ein Treffpunkt für Expats in Kathmandu. Man bekommt hier Französischen Käse, Deutsches Brot, Salami, Pasta und richtig guten Kaffee. Eigentlich ist es ein bisschen wie eine Miniatur des Winterfeldtmarktes und wir stimmen uns schon mal auf unsere Rückkehr nach Berlin ein. Aber eigentlich sind wir hier, weil der Markt eine super Kontaktbörse zwischen Ausländern und Nepalis ist und wir hier sicherlich gute Kontakte für unser Taschenprojekt knüpfen können. Prakriti und Gokul waren noch nie hier und so übernehmen wir mal die Führung für eine kurze Zeit. Gemeinsam schlendern wir über den Markt, sprechen mit den Standbesitzern (sehr viele davon verkaufen Produkte aus sozialen Projekten) und probieren einige Europäische Leckereien, die Gokul und Prakriti nicht kennen.
Oliver und ich ziehen dann weiter nach Thamel um noch ein paar letzte Dinge einzukaufen und einen letzten Kaffee in der Mittagssonne zu trinken. Fotos wollen wir eigentlich auch noch ausdrucken, aber das geht nicht, da in ganz Kathmandu gerade mal wieder kein Strom ist.
Gokul und Prakriti haben eine andere Mission. Sie holen unsere kleinen „Love Letters“ aus der Druckerei ab, die wir an jede Tasche hängen wollen. Die sollten eigentlich schon gestern fertig sein. Da ist sie wieder die Nepali-Zeit. Aber schlussendlich klappt es ja doch irgendwie immer. Die kleinen Heftchen, gedruckt auf Nepali-Papier sind schön geworden. Zum Glück, denn wir haben gleich 2.500 Stück davon bestellen müssen.
Zu Hause treffen wir uns wieder, laden unsere Einkäufe ab und schon geht es weiter. Heute keine Pause, kein Mittagsschlaf sondern volles Programm. Krishna und Nawar stossen zu uns und auf dem Trampelpfad vor unserem Haus bekommen wir zwei hübsche Pokale von Karmalaya für unser Nepal-Engagement überreicht. Dann fahren wir gemeinsam zum Haus von Gokuls Schwester. Sie ist mit ihrem Baby und ihrer Tochter am Freitag aus dem Elternhaus ausgezogen und in ihre eigene Wohnung zurückgekehrt. Wir haben die letzten 3 Monate als Familie unter einem Dach gelebt und so hat sie uns zum Abschied zu sich nach Hause eingeladen. Als wir ankommen treffen wir eine Menge bekannte Gesichter. Die Familie vom Dorf, die wir auch schon gestern bei der Hochzeit wiedergesehen haben. Wenn sie schon mal in Kathmandu sind, dann werden auch gleich alle Verwandten besucht. Saishna malt ein Bild für Oliver und mich zum Abschied, wir bekommen ein Dal Bhat der Superlative mit 3erlei Curry und dann singen wir irgendwie die Nepal-Nationalhymne in der Küche (keine Ahnung wie wir an diesen Punkt gekommen sind). Ein kurzes Mittagsschläfchen wäre jetzt nicht schlecht. Gokul ist total erkältet und krank und wir sind alle ziemlich platt. Aber wir müssen weiter. Nächste Station Transitional Home.
Im Transitional Home lassen wir unsere letzten Vorräte an Kinderschokolade und bringen den Kindern Kniffel bei. Gummitwist haben wir auch dabei. Das brauchen wir nicht erklären. Das kennen die Mädels. Witzigerweise haben sie genau die gleichen Kombinationen wie wir vor über 30 Jahren in Heepen hatten. Ist Gummitwist universell?
Wir sind spät dran, verabschieden uns von den Kindern, bekommen noch selbstgemalte Bilder von jedem einzelnen und machen uns wieder auf den Weg.
Auf dem Weg zu Shakti-Milan, dem HIV Krisenzentrum halten wir kurz an einem Tempel. 10 Minuten innehalten und das Samstägliche Treiben der Hindu-Community beobachten. Ja, das ist schön! Ich weiss jetzt schon, dass es mir schon sehr bald fehlen wird.
Bei Shakti-Milan ist es kalt. Es ist schon fast 17 Uhr und die Sonne bereits verschwunden. Die Damen hocken auf der Dachterrasse um eine Feuerschale herum und döppen Bohnen. Wir setzen uns dazu und trinken einen Tee. 4 der 5 bestellten Häkelkörbchen sind fertig. Nummer 5 ist in Arbeit und fast fertig. Ich bin total gerührt von dem Engagement der Häkel-Lady Sobindra. Sie ist wirklich die einzige der Shakti-Milan Damen, die absolut zuverlässig und mit einer Wahnsinns-Ausdauer ihre Handarbeiten verfolgt. Leider, leider sind die Häkelkörbchen nicht wirklich schön. Das ist jetzt der X-te Versuch und wir kommen nicht wirklich weiter. Diese Produktlinie werden wir wohl einstellen müssen. Ich habe ein kleines Geschenk für Sobindra mitgebracht und bekomme im Gegenzug von ihr ein selbstgemachtes Freundschaftsbändchen. Ich bin gerührt und meine Augen werden feucht. Trotz der Kälte gehen wir noch einmal nach unten ins Nähzimmer. Gokul meint ich solle noch ein paar Worte sagen und dafür bräuchten wir eine offizielle Umgebung. Seufz! Muss das sein? Okay. Wir sitzen in der Runde am Tisch, Goma, Gokul, Prakriti, Oliver und ich. Mit Prakritis Übersetzungs-Hilfe lasse ich die Taschen-Projekt-Stationen der letzten 3 Monate Revue passieren (das habe ich bei den Amis gelernt). Was für eine Berg- und Talfahrt! Was für eine tolle Erfahrung! Was für außergewöhnliche Menschen! Ja, ich möchte zurückkommen und dieses Projekt weiter mit aller Kraft unterstützen!
Es ist schon dunkel und Oliver und ich fahren zurück nach Hause. Prakriti eilt weiter zu Sunita, die seit heute morgen in der Früh ununterbrochen Taschen genäht hat. Eine Nachbarin hat derweil in alle bereits fertigen Taschen nachträglich die neuen Labels eingenäht. Jetzt ist es an der Zeit die ganze Ausbeute einzusammeln, denn die guten Stücke sind ja alle für Deutschland bestimmt. Krishna ist am Nachmittag nach Pharping ins Dorf aufgebrochen und die in der Zwischenzeit dort von Sundar und seinem Team produzierten Taschen abzuholen. Den ganzen Tag über standen die Telefone zwischen Prakriti und Sundar nicht still. Letzte Anweisungen, Abstimmungen, wie viele Taschen habt ihr schon? Sind die Label eingenäht? Auch dieses Team arbeitet seit Tagen unermüdlich und auf Hochtouren um die Bestellung für Deutschland fertig zu stellen.
Zu Hause wollen Oliver und ich die Stunde vor dem Abendessen dafür nutzen schon mal unsere Sachen zu packen. Morgen müssen wir um 5:45 Uhr los und da ist keine Zeit mehr für etwas anderes ausser Zähneputzen. Nach so einer langen Zeit hat sich einiges angesammelt und das Chaos im Zimmer ist dementsprechend gross. Ama hat gerochen, dass wir zurück sind und es dauert keine 2 Sekunden, da steht sie bei uns im Zimmer. Och Ama, das passt jetzt nicht wirklich denke ich. Sie bleibt auch nur kurz und dann ist sie wieder verschwunden. Allerdings nur um ihre Schwester, die gerade zu Besuch ist einzufangen und auch noch mit in unser Zimmer zu schleppen. Ja, bei uns gibt es schliesslich gerade einiges zu sehen. So viele Sachen. Alle RAMROO (schön). Ausserdem ist die Gasheizung an, die wir für die Kinder im Child-Care gekauft haben und erst mal in unserem Zimmer ausprobieren. TATO (warm). Ama und ihre Schwester hocken in unserem Klamottenchaos auf dem Beistellbett und sind begeistert. Oliver erträgt es irgendwie.
Zum Abendessen bekommen wir zur Feier des Tages etwas ganz Besonderes von Ama und ihrer Schwester gekocht. Ama ist ganz aufgeregt und wir müssen sofort runterkommen und essen, solange es noch heiss ist. Brav folgen wir der Anweisung, die wir trotz mangelndem Nepali-Wortschatz sehr klar verstanden haben. Ui und was für eine Leckerei sie für uns gekocht hat. Süsser Frühstrücksbrei mit Curry-Bratkartoffeln. Ich vermeide es Oliver anzuschauen und tapfer schaufeln wir Brei mit Bratkartoffeln samt Nachschlag in uns rein. Ama sitzt mit einem kleinen Teller Brei-Bratkartoffel-Mix andächtig neben uns am Küchentisch und isst mit. Das ist etwas ganz Besonderes. Nicht nur, dass sie einen Löffel benutzt um es uns gleichzutun. Nein, das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass diese Frau, die absolut konservativ und traditionell erzogen und aufgewachsen ist, in einer Kultur in der die Gastgeber nie zusammen mit den Gästen essen und die Frauen erst essen, wenn sie alle bedient haben und alle anderen fertig sind, dass diese Frau mit uns auf einem Stuhl am Tisch in der Küche sitzt und gemeinsam dieses besondere Essen ist. Ich bin gerührt, weil ich mittlerweile weiß, was das für ein Vertrauensbeweis ist und wie weit sie für uns aus ihrer Kompfortzone herausgetreten ist. Ojeh, ich glaube diesen letzten Abend heute überlebe ich nur mit viel Alkohol ;-).
Ama und ihre Schwester kommen nach dem Essen gleich mit hoch. Sie können kaum abwarten, dass etwas passiert und die Abschiedsfeierei losgeht. Prakriti kommt spät zurück von Sunita, aber dafür vollbeladen mit neuen Taschen. Die beiden Frauen haben einen großartigen Job geleistet. Wo ist Krishna mit den Taschen aus Pharping? Er ist gerade erst losgefahren. Um 20 Uhr. Das kann noch 2h dauern bis er zurück in Kathmandu ist. Es ist stockdunkel. Oliver rollt den Heizstrahler ins Wohnzimmer und wir trinken Grog mit Honig, Zitrone, heissem Wasser und einem ordentlichen Schuss Khukri Rum aus Nepal. Ama und ihre Schwestern holen Pius, das verbliebene Baby und bespassen es vor dem Heizstrahler. Wir haben noch für jedes Familienmitglied Geschenke vorbereitet und starten mit der Übergabe. Der Papa und die Schwester kommen dazu, gemeinsam gucken wir uns eine Auswahl von Fotos der letzten 3 Monate an und Ama, Papa und die Schwester sind jedes Mal begeistert, wenn sie einen ihrer Verwandten auf unseren Fotos ausmachen. Sie schaffen die gesamte Präsentation mind. 2x hintereinander und reagieren ähnlich entzückt wie die Kinder in Swaragau. Auf Facebook entdecken wir, dass Maria, die letzte Volontärin bei Gokul direkt nach ihrer Rückkehr nach Österreich eine Taschen-Party mit den ersten 7 Exemplaren unserer Produktion gemacht hat. Wir freuen uns riesig und schreiben direkt zurück.
Irgendwann, nachdem die Rumflasche schon halb leer ist, kommt Krishna mit den Taschen. Oliver und ich kaufen einfach den gesamten Bestand, obwohl wir uns vorher überlegt haben, wie viele Taschen wir haben möchten. Sie sind einfach zu schön und besonders. Die Rumflasche ist ¾ leer, das Wohnzimmer schön warm, Krishna geht ans Harmonium und wir beginnen zu singen. Ama und ihre Schwester fangen an zu tanzen und wir haben einen Riesenspass. Wir sind wirklich ein Teil dieser außergewöhnlichen Familie geworden. Krishna wiederholt nochmals die Übergabe der Buddha-Figuren von Karmalaya. Ziemlich beschwipst und gut von innen- und aussen durchgewärmt fallen wir für ein paar Stündchen ins Bett. Unsere letzte Nacht in Nepal.