Ein Schuss in den Ofen

Morgens brauche ich mal ein bisschen Zeit für mich und beschließe erst nach dem Mittagessen ins HIV Wohnheim zu fahren. Ich bitte Gokul, dass er Goma anruft und ihr sagt, dass ich so gegen 13 Uhr da bin. Sie sollen aber bitte schon ohne mich fleissig mit der Maschine Nähen üben.

Gokul, Prakriti und Mirjam brechen nach dem Frühstück zu einem Ausflug in ein Dorf auf. Sie bringen 2 Ausreisser-Kinder zurück zu ihren Eltern und nutzen die Gelegenheit aus Kathmandu herauszukommen und Natur und Berge zu sehen. Obwohl ich natürlich gerne mitgefahren wäre, beschließe ich lieber meine Zeit dem Taschenprojekt zu widmen. Ich habe mir einen neuen Schnitt organisiert und ein neues Design überlegt. Mein Plan ist es, jeden Tag eine neue Tasche auszuprobieren.

Gokul schreibt mir den Weg zum HIV Wohnheim auf und ich fordere meinen rudimentären Orientierungssinn zu Höchstleistungen heraus. Ich muss mich ein bisschen durchfragen aber schliesslich komme ich um kurz vor 13 Uhr im Zentrum an.

Und hier kommt dann die Überraschung. Die Nähmaschine ist gut zugedeckt und steht in der Ecke. Das Chaos aus Reissäcken und Papierschnipseln vom Vortag noch so gut wie unberührt. Der Raum in dem gestern noch alle die Nähmaschine mit großem Tam Tam eingeweiht haben ist leer. Keiner da!

Nanu? Das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte das ganze Team wäre fleißig am Üben mit unserem neuen Prachtstück. Die Tür geht auf und die Frau, der ich gestern die Aufgabe mit dem Häkeln aus Plastiktütengarn gegeben habe, kommt herein. Sie wohnt im Zentrum und hat mich gehört. Stolz zeigt sie mir ihre Arbeit. Meine Güte. Anscheinend hat sie seit gestern Nachmittag ununterbrochen Plastiktüten verhäkelt. Es ist erstaunlich, wie weit sie gekommen ist. Sogar Ringel hat das gute Stück (was immer es werden soll) bekommen. Na die Frau gefällt mir. Das ist Committment! Aber was ist mit den anderen? Und wo ist Goma?

Ich rufe Goma an, keine Verbindung. Ich frage die anderen Bewohnerinnen des Zentrums, keine Ahnung. Sie rufen über Festnetz an, keine Antwort. Ich rufe Gokul an, er ruft Goma an, aber auch er bekommt sie nicht zu fassen. Wahrscheinlich kommt sie gleich.

Ich setze mich auf die Dachterrasse des Hauses und gucke den Frauen beim Wäschewaschen zu. Mein Blick schweift zur Wäscheleine und dort sehe ich die schöne Merino-Strickjacke von Joop (die ich Goma als Gastgeschenk mitgebracht hatte) aufgespiesst auf Wäscheklammern in der Sonne hängen. Aua! Vorher ist sie wahrscheinlich an einem Stein geschrubbt und mit Bleichmittelwaschpulver eingeseift worden. Schnell wende ich meinen Blick ab.

Dann spiele ich ein bisschen mit den Kindern, geniesse die Aussicht auf die Hügel, bekomme Tee, gehe runter um zu gucken, ob unten schon was passiert ist, gehe wieder hoch, bekomme Chips und Kartoffelcurry, leiste den Frauen beim Abwasch Gesellschaft und dann sind mehr als 2 h um. Unten tut sich noch immer nichts.

Jetzt habe ich die Faxen dicke. Ich schnappe mir die eine Lady, die gestern gut mit der Maschine umgehen konnte und die jetzt mit Wäschewaschen fertig ist. Mit Gesten frage ich sie, ob sie mit mir eine weitere Tasche nähen kommt. Ja, okay! Na gut, dann los!

Wir gehen hinunter zu der Maschine. Die Häkeldame folgt uns und häkelt weiter. Da keiner von uns weiss, was wir mit dem Häkelprodukt machen sollen, beschliesse ich es als Aussentasche für unser neues Design zu applizieren. Wir legen los. Wählen einen Sack aus der zwar die passende Farbe hat, aber unglücklicherweise total voll Mehl ist. Keiner da zum waschen, also muss es auch so gehen. Ich schneide zu und versuche mich an das Youtube Video von gestern Abend zu erinnern. Wir können es leider nicht noch einmal abspielen, denn im Heim gibt es kein Internet.

Der Sack ist von schlechter Qualität und franst sofort aus. Auch das ist ein Learning. Ich bereite die Stoffe vor und gebe sie dann weiter an meine Mitstreiterin, die an der Nähmaschine meine Anweisungen umsetzt. Das läuft eine Weile ganz gut, dauert aber ewig. Leider können wir die Häkeltasche nicht aussen festnähen. Das überfordert unsere Nähmaschine gewaltig. Auch gut: wird dann eben keine Aussen- sondern eine Innentasche mit Bändchen. Ich sage der Häkeldame, sie soll noch ein Bändchen machen und sie legt wieder los.

IMG_3874Irgendwann machen wir dann einen Fehler, denn als wir die Tasche wenden, können wir die Henkel nicht mehr finden. So ein Mist!!

Es ist schon spät und ich habe keinen Nerv mehr. Mit einer Wahnsinnsgeduld trennt meine Mitstreiterin das Futter wieder auf und alle 4 Henkel wieder ab. Der Reissack ist mittlerweile total zerfleddert. Das wird nix mehr. Wir lassen die Henkel weg und ich definiere, dass ist jetzt keine Tasche mehr, sondern ein schöner Blumenübertopf. Damit hänge ich die Damen völlig ab. Das können sie nicht verstehen. Ist mir aber auch egal. Es ist schon am Dämmern und ich sehe zu, dass ich den Rückweg schaffe.

IMG_3873Zum Abschied fragen sie mich noch, wie das morgen mit dem Training läuft. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber werde es herausfinden.

Das war vielleicht kein sehr erfolgreicher Tag im Sinne der Taschenproduktion, aber für das Projekt war es eine absolut wertvolle Erfahrung. Und ein Geschenk, dass dieses kleine Desaster so früh passiert ist und nicht erst nach ein paar Wochen.

Beim Abendessen spreche ich kurz mit Gokul, dem das natürlich alles sehr leid tut, und der auch nicht weiss, wie genau es dazu kommen konnte, dass heute keiner da war.

Wir verabreden für den nächsten Tag ein Treffen mit Goma und ich erkläre, dass es keine weitere finanzielle Unterstützung geben kann, bevor ich nicht ein gutes Gefühl habe, dass sie mit Eifer bei der Sache sind, sich organisiert kriegen und auch mit dem Geld sinnvoll umgehen können. Die Botschaft kommt klar rüber und Gokul telefoniert am Abend noch ein paar Mal mit Goma, die irgendwo auf dem Land bei einer Eskalation feststeckt.

Mir wird klar, dass wir dringend einen Manager für das Projekt brauchen. Goma steckt in zu vielen anderen Themen, als dass sie sich Vollzeit um die Taschenproduktion kümmern kann. Und da ich in wenigen Wochen Kathmandu verlasse, kann ich diesen Job auch nicht übernehmen (mal ganz abgesehen davon, dass ich die Sprache nicht spreche und dass das ja nicht der Sinn des Projektes ist).

Die Ladies brauchen dringend jemand, der für Struktur und klare Anweisungen sorgt. Sonst kommen wir hier nicht weiter.

Es bleibt also spannend, was der morgige Tag bringt.

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